Editorial
Der im Frühjahr 2013 entworfene konzeptionelle Titel des Dossiers lautete „Lebenswelten von Sinti und Roma in Deutschland“ und hatte das Ziel, die Heterogenität von Lebenswelten und Perspektiven von Sinti und Roma auf unterschiedlichen Ebenen darzustellen. Dabei ging es uns genauso um gelebte Normalität jenseits der stereotypen Darstellungen und Diskurse wie um die vielgestaltigen Verflechtungen von struktureller Diskriminierung, Rassismus und Lebenswelten. Im Laufe unserer Arbeit an diesem Dossier mussten wir jedoch erfahren, dass dieser Anspruch nicht in seiner ganzen Komplexität einzuhalten war, weil gerade diejenigen, die sich in Deutschland aktiv bürgerrechtlich bzw. politisch engagieren und selbst Sinti oder Roma sind, keine Normalität (im politischen Sinne) leben können bzw. erleben. Das spiegelt auch die Zusammenstellung von Beiträgen von uns bekannten, oftmals befreundeten und zum Teil durch gemeinsames politisches Engagement verbundenen Menschen in seinen Themen und deren Verarbeitung wider. Das dominierende Thema ist dabei der alltägliche und strukturelle Rassismus, der mit starken Zuschreibungs- und Ausgrenzungsmechanismen einhergeht. Dieser verhindert ganz alltäglich, „dass wir uns offen als Roma bekennen können, ohne daraufhin diskriminiert zu werden“, wie es Vojta Gina im Chatinterview formuliert und gipfelt immer noch in menschenverachtenden Gewalttaten, wie die an dem jungen Rom Gheorghe, der bei Paris von einem bewaffneten Mob entführt, gefoltert und dem Tode nahe in einem Einkaufswagen in der Nähe einer Fernverkehrsstraße abgelegt wurde. Diese Tat symbolisiert den unglaublichen Hass, dem sich Roma und Sinti in Europa immer wieder erwehren müssen. (siehe auch Amaro Chachipe).
Spannungsverhältnisse und Perspektiven
Eine Besonderheit des Dossiers ist, dass alle Beiträge exklusiv hierfür entstanden sind. Das zeigt einerseits sehr deutlich, dass wir als Herausgeberinnen nicht einfach aus einer Fülle von Texten und Materialien zur Thematik schöpfen konnten, die die Minderheitenperspektive sichtbar machen konnten. Dies alles musste zunächst geschaffen werden. Andererseits wollten wir auch bewusst uns bekannte Menschen anregen, ihre Sicht auf die Dinge darzulegen - Perspektiven, Meinungen, Ideen und Erfahrungen, die kaum sichtbar sind, da wenig selbstbestimmte öffentliche Darstellungsräume existieren. So bietet dieses Dossier im doppelten Sinne Perspektiven auf die Ränder und Lücken minorisierter Lebensverhältnisse, auf die Leerstellen und die/das Verborgene/n: Zum einen generell auf die Thematik Sinti und Roma und zum anderen auf innerhalb der Diskussionen wenig gehörte, jedoch komplexe, spezialisierte, analytische und kreative Perspektiven. Viele der beitragenden Menschen sind keine Gewohnheitsschreiber_innen, sondern sehr eingebunden und gefordert in einer Alltagspolitik, die jeden Tag neue Herausforderungen bereithält und wenig Raum lässt, um (Text)-Wissen zu produzieren. So ist es gewiss kein Zufall, dass wir gerade im Kapitel zur Selbstorganisierung auf Gespräche als Beitragsformat zurückgegriffen haben.
Dies alles macht es uns als Herausgeberinnen schmerzvoll bewusst, dass sich dieses Dossier insgesamt in einem Spannungsverhältnis von massiver materieller und symbolischer Gewalt gegen Rroma und Sinti, existenziellen Schicksalen, enormer Marginalisierung von Menschen und immaterieller Textproduktion befindet. Und das zynischerweise in einem gesellschaftlichen Klima, in dem die kollektive Stigmatisierung, vor allem medial, sehr präsent ist, obwohl es sich insgesamt ins Verhältnis gesetzt, um sehr wenige Menschen in Deutschland handelt. Doch selbst diese reichen scheinbar aus, um alte „Überfremdungsängste“ zu schüren und eine erneute Asylrechtsverschärfung durchzusetzen. Unausgesprochen, gleichwohl für alle ersichtlich, wird mit der gesetzlich verankerten Erklärung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten die bisherige Rechtspraxis in eine Sondergesetzgebung für die Abwehr von Roma gegossen.
Diese Komplexität von Ambivalenzen, Reibungspunkten und Machtverhältnissen erhöht sich noch einmal durch die Tatsache, dass Roma und Sinti für gewöhnlich keine gesellschaftlich etablierten Positionen inne haben oder wir nicht als solche sichtbar/markiert sind, dass wir keine gesellschaftspolitische Lobby haben, sondern allenfalls homogen anonymisiert regelmäßig als politische Jongliermasse fungieren.
Politische Vielfalt statt homogener Gewissheiten
Gerade auch als Frauen der IniRromnja, die ein Zusammenschluss von Sinti-und-Roma-Frauen differierender Herkünfte und Positionierungen ist, haben wir den Anspruch, mit diesem Dossier eine Plattform für Unterschiedlichkeit zu sein. Dieser Anspruch beinhaltet für uns, dass wir der Vielfalt von politischen Entwürfen und Forderungen, den individuellen Verarbeitungsformen von Rassismuserfahrungen, wie auch den differenten politischen Arbeitsformen Raum geben wollen. So wird der/die aufmerksame Leser_in bemerken, dass es keine Vereinheitlichung von Begriffen und Schreibweisen in Bezug auf Roma und Sinti gibt, sondern die Bandbreite dessen, was im deutschsprachigen Raum vorkommt: Die in Romani-linguistischer Schreibweise gebräuchliche Verschriftlichung mit dem Doppel-„r“, den viele selbstorganisierte Rroma in Rückgriff auf das Rromanes-Alphabeth (Internationale Romani Union 1990, ursprünglich Trifun Dimic) verwenden, das in Deutschland gebräuchlichste Wortpaar „Sinti und Roma“ oder dessen Umkehr, nur „Roma“ usw. Ähnlich verhält es sich mit der Verwendung der Begrifflichkeiten, die die Erfahrungen und Strukturen von Rassismus gegen Roma und Sinti betreffen – auch hier hatten die Autor_innen freie Wahl.
Aus unserer Sicht sind politisch und kulturell aktive Sinti und Roma in Deutschland in einer neuen Phase der politischen Praxis, in einer Phase der Selbstermächtigung, die (Frei)-Räume braucht, um zu wachsen. In diesen Räumen kann bzw. muss vielleicht sogar hart verhandelt werden, in welche Richtungen, mit welchen Allianzen, von welchem gesellschaftlichen Grundverständnis aus, von welchen Positionen und mit welchen Solidaritäten wir uns jeweils mit den gegebenen gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen auseinandersetzen. Dabei brauchen wir, unseres Erachtens, dringend die Wertschätzung der Erfahrungen und des Wissens aus früheren politischen Kämpfen, die Bereitschaft und den Mut, auch die eigenen Mainstreamproduktionen einer kritischen Analyse zu unterziehen, kreative Methoden sowie gegenseitigen Respekt und vor allem eine Konzentration auf die so unterschiedlichen aber auch spezifischen eigenen Wissensproduktionen und Erfahrungswelten. Diesen Raum haben wir versucht, mit diesem Dossier ein stückweit zu bieten, in vollem Bewusstsein des fragmentarischen Charakters des Dossiers, welches hoffentlich genauso viele Fragen aufwirft, wie es Antworten gibt.
Gleichwohl eröffnet dieses Dossier, so erhoffen wir es uns, auch für Gadje, Interessierte, Unterstützende der politischen Arbeit um gleichberechtigte Teilhabe, einen Blick auf die minorisierten Perspektiven und Erfahrungen in ihrer Vielfalt und eine neue Perspektive auf Roma als Analytiker_innen der gesellschaftlichen Verhältnisse, als aktiv handelnde, sozial und politisch engagierte Akteur_innen.
Inhaltlicher Aufbau
Unterschiedlichkeit gehört also zum Konzept des Dossiers und diese zeigt sich ebenso in den Formaten der Beiträge, die vom wissenschaftlichen Aufsatz, über poetische Texte, Interviews bis hin zum Film reichen, wie auch in der Bandbreite der Themen, die wir in drei Kapiteln zusammenbinden konnten:
Das erste Kapitel „Spezifischer Rassismus gegen Sinti und Roma und strukturelle Diskriminierung“ versammelt vier Aufsätze, dies sich allesamt mit der strukturellen Diskriminierung und den Rassismuserfahrungen von Sinti und Roma in Deutschland befassen. Es spannt den Rahmen von grundsätzlichen Überlegungen Isidora Randjelovićs zu Begriffen und Bezeichnungen und deren Diskussionskontexten, über die Ergebnisse der Studie von Elizabeta Jonuz zum Stigma „Ethnizität“ als Folie für Aufstiegschancen und -erfahrungen, zum Umgang des deutschen (europäischen) Rechtssystems mit geflüchteten Romnja – Nizaqete Bislimi - (das gerade aktuell die informell als „Roma-Schutzklausel“ bezeichnete Änderung des Asylrechts eingeführt hat) zum diskriminierenden Umgang mit der Sprache Romanes in Bildungskontexten - Hristo Kyuchukov.
Im zweiten Kapitel „Selbstorganisierung und Empowerment“ werden Formen der Selbstorganisierung und des damit verbundenen Empowerments von und für Roma und Sinti aus verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen thematisiert. Matthäus Weiß berichtet im Gespräch mit Joschla Weiß von den Anfängen der Bürgerrechtsarbeit der deutschen Sinti und Roma, insbesondere in Schleswig-Holstein und Fatima Hartmann Michollek im Gespräch mit ihrer Tochter Nadine Michollek von ihrem Kampf und ihren Erfahrungen in ihrer politischen Arbeit um Anerkennung und Teilhabe in Köln. Es handelt sich hier um Gespräche zwischen den Generationen, die Erfolge herausstellen, jedoch auch die Kontinuitäten der Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Zustände anprangern. Kenan Emini und Vojta Gina, jeweils im Gespräch mit Isidora Randjelović, sprechen über ihr aktuelles Engagement und politische Arbeitsformen. Dabei geht es auch um die Frage der Reichweite und der Veränderungskraft politischer Arbeit.
In unserem dritten Kapitel „Erinnerungspolitik, Kunstproduktionen und Repräsentationen“ versammeln sich drei Themen, die allesamt die Räume thematisieren, in denen die Erinnerung an den Porajmos (den Genozid an Roma und Sinti), Identitäts-Aushandlungen und kulturell-künstlerische Produktionen stattfinden. Bei Elsa Fernandez ist dies der Raum der Erinnerungspolitik einer Gadje-dominierten Gesellschaft, Tayo Onutor lotet in ihrem Essay ihren ganz persönlichen Raum im Spannungsverhältnis zu gesellschaftlichen Räumen aus und im Kamingespräch zwischen Dotschy Reinhardt, Joschla Weiß und Slavisa Marković wird deutlich, wie die Räume gestaltet sind, in denen sich Künstler_innen bewegen, die Sinti oder Roma sind und als solche sichtbar bzw. positioniert.
Eingeleitet, gerahmt, begleitet und kommentiert wird das gesamte Dossier durch das Vorwort von Anita Awosusi, den Gedichten von Jovan Nikolić, zwei Postkartenbildern von Ceija Stojka und einem Bild von Elsa Fernandez. Diese bieten, so glauben wir, einen weiteren anderen Zugang zu den Perspektiven und Ideen der Beiträge des Dossiers.Wir bedanken uns dafür sehr bei den Schöpfenden und in ehrendem Gedächtnis bei Ceija Stojka. Natürlich gilt unser Dank auch allen anderen, die bereit waren, mit uns gemeinsam diesen Weg zu gehen.